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Erziehungsfaktor

Wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde Baldur von Schirach (1907-1974) zum Reichsjugendführer ernannt; ähnliche Ämter hatte er in der NSDAP bereits seit Jahren innegehabt. Mit dem Hitlerjugend-Gesetz 1936 trat die NS-Jugendorganisation als dritter Erziehungsfaktor neben Familie und Schule. Die Jugendlichen sollten darin ausnahmslos erlebnisorientiert durch Abenteuer, Singen und Spielen an den Nationalsozialismus herangeführt werden.
Am 15. Mai 1936 präzisierte Schirach sein Singkonzept im Verbot von Sprechchören (AMZ 63/20, 15.5.1936, 331):
"Der Reichsjugendfu?hrer Baldur v. Schirach hat bei allen Veranstaltungen der HJ die Verwendung von Sprechcho?ren untersagt und dabei in ganz eindeutiger Weise gegen das 'Kulturmittel' des Sprechchors u?berhaupt Stellung genommen. Man (...) kann nur wu?nschen, daß dieser (...) ho?chst undeutsche und rohe, irrtu?mlicherweise als 'Kunst' angepriesene Demonstrationsla?rm, der uns vom marxistischen Zeitalter her als fragwu?rdige Erbschaft u?berkommen ist, bald aus dem o?ffentlichen Leben in Deutschland ganz verschwindet. 'Singt die Lieder Eurer Vorfahren und Eurer lebenden Kameraden und ka?mpft in der Hitler-Jugend fu?r eine ehrliche deutsche Kunst' – diese Worte Baldur v. Schirachs wird jeder gute Deutsche freudigen Herzens unterschreiben mu?ssen."
Von der Erziehung in den NS-Jugend-Organisationen wurden die Geburtsjahrgänge (beiderlei Geschlechts) ab 1919 teilweise, die Jahrgänge ab 1926 in gestiegenem Umfang und schließlich die beiden von 1933 und 1934 fast vollständig erreicht. In dieser Generation wurde mehr gesungen als jemals vorher oder nachher in der deutschen Geschichte.
Dieses Konzept der NS-Musikerziehung wurde nach Kriegsende kaum diskutiert und nur in Ausnahmefällen infragegestellt. Erst nachdem Theodor W. Adorno 1956 die Reflexion darüber erzwungen hatte – "Nirgends steht geschrieben, daß Singen not sei" –, setzte in den 60er Jahren eine Revision der Musikpädagogik ein.

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