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Liedträger

Wer singt Lieder? Wer behält sie im Gedächtnis? Wer gibt sie weiter? In der Musikgeschichte des Bayerischen Waldes zeigt sich im Rückblick über ein Jahrtausend ein steter Wechsel in der Trägerschaft der Singkunst, der Vokalmusik und der Gesangsvermittlung.
Nicht immer konnte, wollte und durfte jedermann singen, so wie das heute üblich ist. Noch in der frühen Neuzeit fanden sich in den katholischen Landesteilen Bayerns Sänger fast ausschließlich in kirchlichen, höfischen oder kommunalen Diensten. Ihre Tätigkeit war geschützt und erforderte eine förmliche Zulassung. Ein Verstoß konnte juristisch geahndet werden.
Im Zeitalter der Aufklärung kamen dann Sängerinnen hinzu, vor allem Töchter und Frauen von Musikern, denen einerseits eine Instrumentalisten-Ausbildung und -Berufstätigkeit aus Gender-Gründen verwehrt war, die andererseits – nach dem Vorbild des protestantischen geistlichen Gesangs – sich am langsam entstehenden Kulturleben auch im katholischen Bürgertum bemühten.
Im frühen 19. Jahrhundert wurde der Gesang von bürgerlichen Eliten getragen: von Akademikern und Ärzten, Pfarrern und Bürgermeistern, Offizieren und Richtern. Erst um 1848 beteiligten sich breite Bürgerschichten in den Städten und Märkten daran.
Dass in der Kaiserzeit vor allem der staatstragende Männergesang gefördert wurde, entfachte um die Jahrhundertwende Gegenbewegungen von Jugendlichen und Frauen. In den 20er Jahren drang das Unterrichtsfach Singen in Lehrpläne aller Schulen ein, wo er bisher von der Laune des einzelnen Lehrers abhängig gewesen war.
In der NS-Zeit erreichte der Gesang schließlich alle Gesellschaftsschichten, alle Altersstufen, alle Geschlechter, alle Massenorganisationen. Singen wurde normativ verordnet: Auch wer es nicht schon freiwillig tat, musste jetzt singen, Singen in der sozialen Gruppe war das rituelle Bekenntnis zur sog. Volksgemeinschaft.
Aus dieser Erfahrung wurde ab ca. 1968 in der Musikpädagogik der Anteil des Singens am schulischen Musikunterricht drastisch reduziert. In der Gegenbewegung dazu entstanden aber ein breites Medienangebot (samt PR-Kampagnien etwa mit singenden Fußballern in den 70er Jahren) und musikpädagogische Projekte nach weltanschaulichen Konzepten.
Heute steht das Singen jedermann offen – in der Folge der Bildungsreformen der 68er-Jahre. Ohne normative Zwänge wird freiwilliges, selbstbestimmtes Singen in großer und bunter Vielfalt von Chören und Musikvereinen, sozialen Netzwerken und Kirchen, Bildungs-, Wellness- und Freizeiteinrichtungen angeboten.

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