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Liedern haftet landläufig die Vorstellung des hohen Alters und der urheberrechtlichen Gemeinfreiheit an; die Liedforschung suchte deshalb lange Zeit vorrangig nach dem ältesten Beleg eines Liedes, nicht nach dessen Urfassung.
Eine Wurzel dieser Vorstellung liegt in den Überlieferungsmythen, die im Kontext des Historismus um sog. Volkslieder verbreitet wurden, seitdem Herder 1779 diesen Begriff erfunden und propagiert hat.
In dieser Vorstellung veröffentlichten viele Komponisten und Herausgeber ihre Lieder deshalb unter dem Label Volkslied und ohne Nennung ihrer Urheberschaft, so z. B. Robert Link (1952) im ersten Band des Liederbuchs Waldlerisch g'sunga!, der mehrere Lieder von Paul Friedl, vulgo Baumsteftenlenz, enthält:
"Waldlerleut!
Enk g'hör'n dö Liadln da! Eure Großväta und Großmüatta hams g'sunga, bald war'n s'vogess'n wor'n. Gott sei Dank aber, daß der Baumsteftenlenz die mehran davo aufg'schrieb'n hat. Dankts es eahm und singt's dö Liadln wieda neba dö paar neua, dö dazua kemma san! Es wird Enk net reua!
Grafenau, am 22. Mai 1952, dem 50. Geburtstag des Baumsteftenlenz.
R. Link"
Eine zweite Wurzel der Lied-Mythen bildet die herrschende Vorstellung des sog. Werkcharakters. Sie ist ideengeschichtlich im deutschen Idealismus verankert. Weil das Singen jedoch erst spät in Mode kam, wurde der Werkbegriff auf Lieder – anders als bei Opern, Sonaten oder Sinfonien – vielfach nicht angewandt.

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